· 

Festreden zum Nationalfeiertag in Erschwil, Arch und Grenchen


31. Juli 2021:
Erschwil, 17 Uhr
Arch, 20:30 Uhr

 


 1. August 2021:

Grenchen, 19:30 Uhr

 

 


 

1. August 2021, Grenchen

Ansprache von Frau Regierungsrätin Brigit Wyss

Vorsteherin Volkswirtschaftsdepartement Kanton Solothurn

 

Es gilt das gesprochene Wort!

 

 

Liebe Grenchnerinnen und Grenchner

Liebe Mitbürger und Mitbürgerinnen

Liebe Gäste

 

Vor einem Jahr glaubten wir, das Schlimmste hinter uns zu haben. 1. August-Feiern 2020 gab es zwar nicht, aber wir hofften, dass sich das COVID-19-Virus auf dem Rückzug befinde. Die letzten Monate haben uns gezeigt, dass dem nicht so ist und heute müssen wir davon ausgehen, dass das Virus und seine Mutanten nicht verschwinden, sondern weiterhin in der Bevölkerung zirkulieren.

 

Der Bundesrat, die Kantone, die Städte und Gemeinden haben viel gelernt in den letzten Monaten. Wir waren in einem intensiven Austausch mit den Verantwortlichen von Spitälern, Heimen oder Spitex, mit der Armee und mit dem Zivilschutz; mit Vertretern und Vertreterinnen aus der Wirtschaft, aus dem Bildungs- und Sportbereich und aus weiteren betroffenen Kreisen.

 

Pandemie-Pläne gab und gibt es grundsätzlich auf allen Stufen. Aber eben: Theorie und Praxis sind zwei Paar Schuhe. Und deshalb steht im Pandemieplan des Bundes tatsächlich: "Eine Pandemie und ihre Auswirkungen sind nicht vorhersehbar." Der Pandemieplan wurde regelmässig überarbeitet und gestützt darauf Krisenübungen durchgeführt. Heute wissen wir, dass der Pandemieplan Schwächen hat und wir für die besondere Lage – und in der befinden wir uns immer noch – und auch für die ausserordentliche Lage die Entscheidungsprozesse und die Aufgabenverteilung zwischen Bund, Kantonen, Städten und Gemeinden überdenken müssen.

 

Die Schweiz und insbesondere auch der Kanton Solothurn sind aber trotzdem gut aufgestellt. Vieles hat funktioniert, einiges hat sogar gut funktioniert.

 

Die Schweiz ist ein föderalistischer Staat und die Macht ist auf Bund, Kantone, Städte und Gemeinden aufgeteilt. Jede Ebene hat ihre eigene Aufgabe und der Föderalismus sorgt für Autonomie und Selbstbestimmung. Die unterschiedlichen kantonalen Voraussetzungen haben dazu geführt, dass einzelne Kantone eigene Massnahmen ausprobiert haben wie beispielsweise der Kanton Graubünden, der eine flächendeckende Teststrategie beschlossen hat um die Wintersaison zu retten. Dieser "Flickenteppich" hat in den letzten Wochen und Monaten immer wieder zu Kritik geführt. Wenn es keine einheitlichen Regelungen gibt oder nur Grundsätze definiert werden, ist es unumgänglich, dass es Unterschiede gibt. Und selbst wenn der Bund einheitliche Regelungen erlässt, braucht er dafür Vollzugswissen und dieses Wissen haben in der Schweiz in erster Linie die Kantone, Städte und Gemeinden. Der Föderalismus ermöglicht uns, die Unterschiede zwischen den Kantonen – und im Kanton Solothurn ganz besonders auch zwischen den Regionen – zu leben und gleichzeitig das Gemeinsame nicht aus den Augen zu verlieren.

 

Die Pandemie hat Schwächen und die damit verbundenen Reibungsverluste zwischen den verschiedenen Staatsebenen aufgezeigt und es wird Anpassungen brauchen, um unser föderalistisches System fit für die Zukunft zu machen. Grundlage dafür sollte aber immer die Bundesverfassung sein: "Das Schweizervolk und die Kantone bilden die Schweizerische Eid-genossenschaft". Seit 1848 findet ein ununterbrochener und intensiver Austausch zwischen Bund, Kantonen, Städten und Gemeinden statt. Erfahrungen werden ausgetauscht und um Lösungen wird gerungen. Es sind diese Prozesse, die uns zusammenhalten und den fruchtbaren Boden bilden, auf dem sich die Schweiz immer wieder anpassen, verbessern und wenn nötig neu erfinden kann.

 

Die Einführung des Stimm- und Wahlrechts für Frauen vor 50 Jahren ist ein Beispiel dafür. Im März 1957 – und damit 14 Jahre vor Einführung des Frauenstimm- und Wahlrechts auf eidgenössischer Ebene – sind in der Gemeinde Unterbäch im Oberwallis Frauen zum ersten Mal in der Geschichte der Schweiz an die Urne gegangen. 1971 wurde das Frauenstimm- und Wahlrecht auf eidgenössischer Ebene eingeführt. Bis die Frauen aber auch in allen Kantonen abstimmen durften, dauerte es noch bis 1991. Im Kanton Appenzell Ausserrhoden entschied die Landsgemeinde erst 1989 zugunsten des Frauenstimmrechts. Und im Kanton Appenzell Innerrhoden erhielten die Frauen ihre politische Rechte erst 1991 aufgrund eines Bundesgerichtsentscheides.

 

Wir sind es gewohnt und haben diesen und viele weitere Prozesse – mehr oder weniger geduldig – immer wieder gemeinsam durchlaufen. Die direkte Demokratie mit den Instrumen-ten Initiative und Referendum ist die Besonderheit unseres politischen Systems und wahr-scheinlich weltweit einzigartig. Und auch wenn äussere Ereignisse oder Rahmenbedingungen sich laufend verändern, haben wir damit einen Schlüssel, um sich aufbauende innerpolitische Spannungen auch wieder abzubauen. Die Pandemie hat uns verunsichert. Dazu kommt, dass die Abstimmungskämpfe immer mehr in die sozialen Medien verlagert werden und die Gehässigkeiten dadurch weiter zunehmen. Statt Argumente auszutauschen werden Gegner und Gegnerinnen verunglimpft. Diese Entwicklung müssen wir im Auge behalten, weil sie das bewährte politische System der Schweiz unterläuft, Gräben unnötig vertieft und damit unserem Zusammenleben schadet.

 

Die Krise hat uns gezeigt, wie schnell wir an unsere Grenzen stossen. Sie hat aber auch gezeigt, wie wir Hindernisse überwinden können: durch Mitgefühl, Gemeinsinn und Engage-ment. Viele Menschen sind in den letzten Monaten über sich selbst hinausgewachsen, haben angepackt und Verantwortung übernommen. Es wurde Enormes geleistet; insbesondere in den Spitälern, Altersheimen, von der Spitex und in vielen anderen Bereichen der Gesellschaft und der Wirtschaft.

 

In der Krise gelitten haben unsere Beziehungen, die persönlichen wie die beruflichen. Dank moderner Kommunikation fanden Sitzungen, Konzerte oder Geburtstagsfeiern zwar trotzdem statt; aber ausschliesslich virtuell. Und plötzlich gab es für mich als Politikerin viel mehr freie Abende und Wochenende. Zuerst durchaus willkommen, fehlte mir – und ich denke, dass es vielen Menschen so geht – je länger je mehr der persönliche Austausch und die spontanen, alltäglichen Begegnungen. In der Krise wurde offensichtlich, was wir im Grunde wissen: der Mensch braucht den Menschen oder wie es Max Frisch sagte: "Du kannst dir selber nicht "gute Nacht" sagen."

 

Wir Menschen haben es gerne, wenn alles so bleibt wie es ist; jedenfalls meistens. Verände-rungen vermeiden wir, wenn wir können. Krisen durchbrechen die persönliche aber auch die gesellschaftliche Routine und das ist für uns nicht immer leicht auszuhalten. Wir sind Stabilität gewohnt und setzen uns entsprechend dafür ein. Wir sind aber auch Mitten in Europa, einem historisch unruhigen Europa. Wir sind nicht nur geographisch, sondern auch kulturell, gesellschaftlich, wirtschaftlich und neu eben auch virologisch eng verknüpft mit der ganzen Welt, da wir eines der Länder sind, welches am stärksten globalisiert ist mit entsprechend starken Exportfirmen im ganzen Kanton und insbesondere auch in Grenchen.

 

Die internationale Verflechtung hat viele Vorteile für die Schweiz und besonders auch für den Kanton Solothurn. Sie ist unter anderem ein wichtiger Faktor für unsere internationale Wettbewerbsfähigkeit und damit für unsere Wohlfahrt. International vernetzt zu sein birgt natürlich auch Risiken; und nicht nur virologische. Wie immer gilt es, Chancen und Risiken sorgfältig abzuwägen. Die Krise hat uns gezeigt, dass wir verletzlich sind. Trotzdem: vor-schnelle Abwehrreaktionen könnten die Schweiz und damit den Kanton Solothurn in diesen anspruchsvollen Zeiten zusätzlich und nachhaltig schwächen.

 

Der erste August 2021 ist deshalb ein ausgezeichneter Moment, um sich auf die Kraft des Gemeinsamen zu besinnen und nicht auf das Trennende zu fokussieren. All die tatsächlichen und eingebildeten Gräben, welche die Schweiz durchlaufen sollen, gibt es möglicherweise; mindestens theoretisch. In einer Krise ist mit diesen Gräben aber nicht viel anzufangen. Wichtig sind Brücken und Menschen, welche bereit sind, über diese Brücken zu gehen. Wir sind in den vergangenen schwierigen Wochen und Monaten zusammengerückt, haben für uns und für andere Verantwortung übernommen, übernehmen müssen. Theoretisch kennen wir die Kraft des Gemeinsamen – durch die Krise haben wir sie gespürt.